Stiller Abschied von Serbien

Gracanica – nur 10 Kilometer von Pristhina entfernt. Dorthin sind viele Serben
nach dem Kosovo Krieg umgezogen, die früher in Prishtina gelebt haben. Die
Stadt platzt aus allen Nähten. Eine einzige Hauptstraße führt durch die kleine
Stadt, es gibt Staus zu jeder Uhrzeit. Der Markt musste der Enge weichen und
hat sich direkt an der Seite der Hauptstraße breit gemacht. Für Tische gibt es
keinen Platz, alles liegt in Säcken auf dem Boden. Ein Besuch in Gracanica.

„Wer von Euch will Wahlbeobachter sein, wer will in der Kommission sein und
Stimmen zählen, ihr müsstet Euch in Gruppen aufteilen“, erklärt Mihajlo Dekic
von der NGO „HERC“. Es ist ein sonniger Nachmittag, in einem Café auf der
Hauptstraße in Gracanica sitzen 30 Schüler aus den umliegenden Dörfern.
Einmal in der Woche treffen sie sich und diskutieren zusammen mit Mihajlo Dekic
und einem weiteren Mitarbeiter der NGO über verschiedene Themen, wie etwa
Umwelt, Bildung und soziales Engagement. Nächste Woche soll eine Wahl simuliert
werden. Es werden keine Politiker gewählt, nein, es muss ja doch irgendwie
spannend für die 13- bis 15-Jährigen sein. Also treten Fußballclubs
gegeneinander an: Milan, Barca, Bayern München und andere. „Die Kinder sollen
lernen, politisch aktiv zu sein, sie sollen wissen, dass ihre Stimme zählt“,
sagt Dekic: „Apathie ist eine große Herausforderung für unsere Gesellschaft.
Die Menschen hier in der serbischen Enklave haben sich daran gewöhnt, dass
andere die Entscheidungen für sie treffen – Pristina, Belgrad oder die
internationalen Organisationen im Land. Sie treffen für uns die Entscheidungen,
so denken fast alle hier in Gracanica.“

In Gracanica leben mehrheitlich Serben. Die Stadt gehört zu den größten
serbischen Enklaven im Süden. Insgesamt leben ca. 80.000 Serben südlich des
Flusses Ibar, im Norden sind es 40.000. Der Streit zwischen Kosovo und Serbien
dreht sich aber weniger um die Zukunft der Serben im Süden, sondern eher um die
im Norden. Die Serben in Gracanica fühlen sich deswegen im Stich gelassen – von Belgrad, von Pristina, von Brüssel. Und während die Politik nach Lösungen sucht, oder
auch nicht, geht die Jugend ihren eigenen Weg:

Milica aus Gracanica

Milica aus Gracanica

„Wir, die Jungen, müssen uns von der ganzen Politik emanzipieren,
differenzieren. Wir müssen zusammenhalten. Die Nationalität soll das kleinste
Problem sein. Wichtig ist, dass wir uns verstehen, dass wir gemeinsame
Interessen haben, die gleiche Musik hören“, sagt Milica. Sie ist 1995 in
Pristhina geboren. Ihre Eltern, beide Ärzte im Krankenhaus in Pristina, mussten
1999 die Stadt verlassen. Seitdem leben sie in einem Dorf 15 Kilometer von
Gracanica entfernt. „Ich fahre jeden Samstag nach Prishtina, wo ich einen
Englisch-Kurs besuche – zusammen mit Kosovo Albanern. Mit einigen bin ich sogar
befreundet, wir kommunizieren oft über Facebook, sie sprechen ein bisschen
Serbisch, ich ein bisschen Albanisch und den Rest erledigen wir auf Englisch.
Das ist ganz normal geworden“, sagt Milica, die gerne später Theater und
Schauspielerei studieren möchte.

Ob es sich hier besser leben würde, wenn diese 30 Jugendliche die politischen
Geschicke in der Region übernehmen würden – und nicht die Politiker. Mihajlo
ist davon überzeugt: „Die Internationale Gemeinschaft hat keine Strategie für
diese Region. Sie interessiert sich einfach nicht für uns. Die Leute kommen hier
für sechs Monate, sehen, dass sie nicht in der Lage sind, etwas zu verändern,
kriegen ihr Gehalt und gehen zurück in ihre Heimatländer – und so dreht es sich
im Kreis“, meint Dekic. Seine Lösung für die Probleme im Kosovo: Die
Vergangenheit ausblenden. „Wir müssen uns um die Gegenwart kümmern, die ist
schwer genug hier.“

Die Jugend in Gracanica wäre soweit, neu anzufangen. Wann folgt ihr die
Politik?

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